Andrea Riemer ist Schriftstellerin und Strategin. Sie hat ein klares Empfinden für geopolitische Zusammenhänge und ist in der Lage, Gedanken vortrefflich zu formulieren. Sie kann die Zusammenhänge klar umreißen, um aktuelle Entwicklungen für alle Interessierten verständlich zu machen. Ich teile ihre Einschätzung und möchte mich vollinhaltlich mit dieser Botschaft identifizieren. Andrea Riemer hat mir die Erlaubnis gegeben, den Artikel, den sie in der Huffingtonpost veröffentlicht hat, weiter zu verbreiten. Ihr könnt meinem Beispiel folgen, wenn Ihr ein Bedürfnis nach positiver Veränderung verspürt und Euch aktiv daran beteiligen wollt.
Gedanken zur aktuellen Situation von Andrea Riemer
Die folgenden Gedanken sind provokant, für manche verstörend … und doch – ich halte sie für wesentlich, denn in meiner Rolle als Schriftstellerin und als LifeCoach mit jahrelanger Führungsverantwortung erachte ich es als meine Aufgabe, auf das hinzuweisen, was im Kollektiv zur Zeit ganz besonders fehlt und so dringend erforderlich ist.
Ich will zum Nachdenken, zum Diskutieren und zu einem Perspektivenwechsel anregen, denn die Zeit drängt.
Nichts von dem, was ich schreibe, ist einfach oder gar leicht – alles jedoch halte ich für geboten, wenn wir uns als Kollektiv sinnstiftend weiterentwickeln wollen. Mit allen Aufs und Abs, die Teil dieses Großprozesses, in dem wir uns befinden, bewusst und unbewusst, sind. Herzlich willkommen.
Führung – Hilfe, wer macht das statt mir?
20 Jahre lange war ich in verschiedenen Führungsaufgaben – die einzige Frau unter Männern in einer Männerdomäne, der Sicherheitspolitik und Strategie.
Klassischer geht es wohl nicht mehr. Wer hätte je einer Frau strategische Kompetenz zugeschrieben? Maria Theresia und Katharina die Große – nicht dass ich mich mit einer der beiden vergleichen will, nein – nur, die beiden waren rasch vergessen … in der Männerwelt. Mit meinen Gedanken war ich oft vier, fünf Jahre vor der Zeit – und ich habe so ziemlich alles erlebt, was man als Frau unter Männern erleben kann. Alleine das gibt Stoff für mehrere Bücher.
Nun – ich will nicht jammern, denn als Opfer habe ich mich auch in Zeiten höchster Kritik und Pression nicht gefühlt. So lebe ich heute in meiner Berufung als Schriftstellerin und LifeCoach in einer sehr angenehmen Position.
Ich schreibe das, was mir wesentlich erscheint, äußere meine Meinung und biete Gedanken an – ohne Zwang zur Zustimmung oder gar zur Umsetzung. Ich gebe in meinen Coachings an Führungskräfte das weiter, was ich für wichtig halte.
Als jemand, der nicht mehr in Führungsaufgaben steht, schreibt und empfiehlt es sich natürlich leicht. Ich muss ja keine Führungsverantwortung mehr tragen. Ja, das ist richtig.
Gleichwohl – die inhaltliche und räumliche Distanz, das nicht mehr in der Lage verfangen sein – all das ermöglicht den Blick von oben. Und bekanntermaßen sieht man von oben deutlich umfassender. Der Adler gilt ja oft als Symbol für die Strategin/den Strategen.
Die Zeit der Bumm-Bumm Boys und der Rattenfänger
Nach wie vor bin ich eine kritische Beobachterin gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen. Natürlich sehe ich Führer wie Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan höchst kritisch.
Sie verkörpern einen Führungstyp, der jedoch das Ergebnis von jahrzehntelanger „Arbeit“ ist. Ohne psychologisch zu werden – beide sind das Symbol von kleinen Jungen, die wie Elefanten im Porzellanladen herumtrampeln und das Vorhandene nun sichtbar zerstören. Anti-Estabilishment als Devise ist ein ziemlich einfaches Führungskonzept.
Das braucht nicht viel – außer ein paar Emotionen. Rattenfänger haben es in kritischen Zeit bekanntermaßen leicht. Wer es schafft, dem „Volk aufs Maul zu schauen“, der kann im Internetzeitalter rasch punkten. Dazu braucht es keine Perfektion auf der medialen Klaviatur. Und – es braucht keiner Führungskompetenz. Die Verantwortung ist längst beim Fenster rausgeflogen.
Beide, Trump und Erdogan, haben – so paradox das klingen mag – erkannt, dass viele bislang funktionierende Modelle und Methoden eben nicht mehr funktionieren. Ob ihr Verhalten und die Ergebnisse dem Gemeinwohl zuträglich sind, ist hier nicht zu beurteilen. Ich will darauf hinweisen, was sich im Hintergrund abspielt, denn es laufen sehr klare Muster ab, die man erkennen kann – wenn man will.
Geländer gesucht – der Griff ins Leere
Offenbar ist – wir leben als Kollektiv in einer seit Jahren andauernden Umbruchsphase, in einem markanten gesellschaftlichen Wandel, der durch vieles, das uns bestens bekannt ist, verursacht wurde … im Übrigen auch durch uns selbst.
Dazu kann man in aller Tiefe und Breite nachlesen, Wissenschaftliches, Populärwissenschaftliches, Alltägliches und weniger Alltägliches. Die Veränderung ist derart tiefgehend und sich ausbreitend, dass man mit dem „alten Latein“ sehr oft am Ende ist und nichts mehr ausrichtet.
Offenbar ist daher – das Alte im Verhalten, das uns so vertraut ist und so viel Komfort bislang bot, funktioniert nicht mehr, ist jedoch noch gegeben und vegetiert dahin – zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.
Das Neue ist noch nicht in dem Ausmaß vorhanden, dass es kollektiv wirken könnte. Wir sind in einer „gesellschaftlichen Spalte“. Phasen in dieser Qualität sind frei von jeglicher Sicherheit.
Sie verlangen Mut und Vertrauen, zwei Währungen, die jedoch auch nicht im ausreichenden Maß vorhanden sind. Es ist leichter, nach starken Führern zu schreien. Da muss man selbst nicht viel tun. Und es ist leichter, gegen etwas zu sein als für etwas. Zweiteres verlangt bereits ein kritisches Nachdenken. Ersteres verlangt nur die blanke Ablehnung dessen was ist.
Der Schrei nach einem starken Führer – durchaus von den beiden genannten nach Außen, ich betone nach Außen – verkörpert (Stichwort „dealmaker“), ist ebenfalls nicht die Lösung.
Das kann man nahezu täglich erkennen, wenn man bereit ist, genau hinzusehen. Wenn die wortgewaltigen Energien dieser Führer mit den kollektiven Ängsten vor ihnen, vor einer Wiederkehr der Geschichte konfrontiert werden, dann schaukelt sich der Prozess in einer zugegeben gefährlichen Weise auf.
Rechts, links, Bürgerbewegungen, Reichsbürger etc. … nichts ist unmöglich, vieles zeigt sich in stark verzerrter Form. Die Masse schwappt dazwischen teils aufgeregt, teils lethargisch mit. Die Pervertierung und die Verzerrung sind Symptome von Übergangszeiten.
Der Schrei nach mehr Frauen in Führungsaufgaben – der Ruf der Feministinnen und vieler Frauen – mag zu Recht sehr laut sein. Die Zerstörung patriarchaler Strukturen ist längst im Gange. Ja – frau kann immer etwas tun, um die Zerstörung zu beschleunigen und mehr weibliche Kraft in das Gesamtsystem zu bringen. Zum Ausgleich mit dem Männlichen wird es noch dauern.
Als jemand, der viele Jahre in Führungsaufgaben verbrachte, begegneten mir nur ganz wenige Führungskräfte, gleich ob weiblich oder männlich, die eben wahre Führungsqualitäten inne hatten.
Wie oft ich ein Führungsversagen erlebte, dazu reichen beide Hände nicht aus. Im Übrigen oft dort, wo ich es am wenigsten erwartet hatte. Die Männer waren größtenteils entscheidungsschwache Softies, die überpartizipativ und voll Angst, was man denn über sie sagen und schreiben würde, führten.
Die Frauen versuchten die besseren Männer zu sein und führten mit harter Hand. Empathie war den meisten fremd. Oder sie waren das Dekorum und die Quotenfrau. Man hatte der Form genüge getan. Bitte den Mund halten oder gleich gehen. Es warten bereits einige Kandidatinnen, die pflegeleichter sind, jünger und noch dekorativer. …
Beide, männliche und weibliche Führungskräfte, wurde in zahlreiche Führungskräfteseminare geschickt, mit Methoden, Methödchen, Rezepten und den neuesten Trends vollgestopft, die sie teilweise versuchten, umzusetzen und an denen sie selbst oft scheiterten, weil sie kaum von innen heraus führten, sondern sich im Außen verschiedener Instrumente bedienten, die sie nach Schema F umsetzten.
Wenn der erste Hype verflogen war, fiel man ins Koma der alten Verhaltensweisen zurück. Aus die Maus mit dem Führungstango … wieder zurück in die graue Kemenate aus Dauerbesprechungen, Plänen, Zielvereinbarungen, Leistungsdruck etc. … ja ich pointiere … zugegeben.
Herzlich willkommen in der Krise …
Nun sind wir mittlerweile in einer Entwicklungsphase angelangt, wo hilflos herumgerudert wird, altbackene Wahlkämpfe geführt werden, die einen schaudern lassen, Leistungsdruck entlarvt wird, Burnout zur Modeerscheinung und zum Etikette wurde, Scheitern an der Tagesordnung ist und Ohnmacht und Hilflosigkeit am Plan stehen.
Die kollektive Frustration und das gesellschaftliche Schleuderprogramm haben ein Maß erreicht, das nach etwas Anderem verlangt. Nun gut, könnte man nun denken. Wieder mal etwas Anderes. … Warum nicht?! Hilft es nicht, so schadet es nicht, könnte die fatalistisch anmutende Replik auf diese meine – vielleicht doch alte – Forderung sein.
Es geht mir jedoch um etwas völlig Anderes in der aktuellen Lage. Und diese aktuelle Lage ist in einer Phase, die ich als tipping point bezeichne, als Punkt im Sinne eines Zeitabschnittes, der nicht lang ist, ohne mich auf Tage festlegen zu wollen und zu können.
Kipppunkte sind kritische Punkte im Sinne der Urbedeutung des Begriffes crisis und krinein und bedeutet „trennen“ und „(unter-)scheiden“. Es ist die Zuspitzung, die Zusteuerung auf einen Wendepunkt.
Damit ist natürlich kein auf die Minute festlegbarer Zeitpunkt gemeint, sondern eine Phase, in der für sich genommen kleiner Auslöser breitflächige Konsequenzen haben kann.
Man nehme z.B. die Fadesse und das Desinteresse an der Brexitabstimmung, wo eine nicht unbeträchtliche Menge an Menschen am Tag nach der Wahl googeln ging, was das eigentlich bedeutet. Für sich genommen ist googeln gehen unbedeutend.
Im Kontext, und ich schreibe seit 25 Jahren über die Bedeutung der Kontextualisierung, d. h. der gedanklichen und faktischen Einbindung von Verhaltensweisen und Ereignissen in einer größeres Ganzes, also im Kontext hingegen hat dieses Ereignis zu einer Lawine an Konsequenzen geführt, die im Detail und in der Reichweite gar nicht absehbar sind und daher ob der großen Unsicherheit Angst erzeugen, kollektive Angst. Und die hat bekanntermaßen eine ungeheure Kraft.
Das Amalgam aus Ängsten verschiedenster Provenienz und Begründung (die gibt es immer und jeder hält sein für besonders richtig und gut), das ist der eigentliche Urgrund – entwickelt und aufgeschaukelt über nun bald 30 Jahre.
Ich schreibe dies deshalb so ausführlich, weil es uns alle angeht. Keine und keiner kann sich ausnehmen. Ein Davonstehlen ist nicht mehr möglich, weder durch Emigration noch durch Desinteresse. Die Großwetterlage geht uns alle an.
Wie weiter, falls es überhaupt weitergeht?
Wie navigiert man nun diesen schlingernden Flugzeugträger? Bekanntermaßen haben große Schiffe einen hohen Trägheitseffekt und es dauert, bis man den Kurs geändert hat. Bei rauer See und Orkan sind derartige Kolosse höchst unreagibel und unpraktisch. Nun – manches kann man sich dann nicht mehr aussuchen. Wie behilft man sich?
Mit Besonnenheit, Überlegtheit, Klarheit, Handeln. Zielgerichtetheit und mit klaren Grenzen setzen.
Dies sind archetypisch männliche Eigenschaften, die viele Männer von ihren Vätern gar nicht mitbekommen haben – wie sollen sie diese Eigenschaften dann aus sich heraus leben? Frauen können sich auch nicht ausnehmen.
Ich betone in meiner Aufzählung, männliche Eigenschaften, nicht Männer. So mögen sich Feministinnen im Speziellen und Frauen im Allgemeinen nicht auf den Schlips getreten fühlen.
Ich formuliere bewusst salopp: es braucht heute mehr Testosteron beim Führen, wenn wir heil das andere Ufer erreichen wollen. Dies ist nicht mein Wunsch, auch nicht mein Traum … nein, ich halte dies für unabdingbar, wenn wir als Kollektiv aus dem aktuellen komplexen Strudel lebend herauskommen wollen.
Ich halte es für wesentlich, dass Menschen, die über diese Qualitäten verfügen, hervortreten und Verantwortung, Führungsverantwortung übernehmen und diese Qualitäten auch leben und anwenden.
Das ist Strategie der neuen Zeit. Das ist die Strategin/der Stratege der neuen Zeit. Ich erinnere mich sehr gut, wie oft genau diese Strategie gefordert wurde. Nun denn – jetzt ist dafür der richtige Moment. Mutige hervor …Klare Kante heißt nicht autoritär führen. Klare Kante heißt Führungsverantwortung besonnen, verantwortlich, klar, tatkräftig, zielgerichtet mit klaren Grenzen zum Wohle des großen Ganzen zu übernehmen – und für die Konsequenzen auch die Verantwortung übernehmen wollen und können.
Es mögen sich die Richtigen dafür angesprochen fühlen.
Beitrag von Andrea Riemer in der Huffingtonpost